Am 19. Juni 2017, drei Tage vor Beginn der Sommerferien, hatten sich gut zweihundert Schülerinnen und Schüler des Beruflichen Gymnasiums Wirtschaft und deren Lehrkräfte in der Aula der Friedrich-List-Schule, Berufsbildende Schulen Hildesheim, versammelt, um einen ganz besonderen Gast begrüßen zu dürfen: Professor Dr. Guy Stern.


Der Ehrengast war für einige Tage zu Besuch in seiner Heimatstadt Hildesheim.

Begleitet wurde der 95-Jährige von Vertretern des Sportvereins Eintracht Hildesheim:

Clemens Löcke als Geschäftsführer und Vorstandsvorsitzender, Hans-Jürgen Bertsche als Stellvertretender Vorstandsvorsitzender und Lukas Hahnsch als Referent des Vorstandsvorsitzenden. Professor Stern ist seit seiner Kindheit Mitglied bei Eintracht Hildesheim. Für seine treue Verbundenheit zum Sportverein wurde ihm die Ehrenmitgliedschaft übertragen.

Ebenso anwesend war die Bürgermeisterin der Stadt Hildesheim, Beate König, die die Grüße des Oberbürgermeisters Dr. Ingo Meyer überbrachte.

Der Schulleiter Dietmar Ehbrecht zeigte sich sehr erfreut und geehrt darüber, mit Professor Dr. Guy Stern einen großartigen „Weltenbürger“ an der Friedrich-List-Schule Hildesheim begrüßen zu dürfen. Ehbrecht brachte den Zuhörern zu Beginn den Lebenslauf des Ehrengastes nahe:


Guy Stern wurde 1922 als Günther Stern in Hildesheim geboren, er wuchs in einer assimilierten jüdischen Familie auf, besuchte das Andreas-Realgymnasium (heute: Scharnhorstgymnasium) und emigrierte 1937 mit Hilfe eines Onkels aus St. Louis und des amerikanischen Konsuls in Hamburg als einziges Mitglied seiner fünfköpfigen Familie in die USA. Auch später gelang es ihm nicht, sie nachzuholen. Nach Kriegsende erfuhr er, dass seine ganze Familie deportiert wurde und im Warschauer Ghetto bzw. in Auschwitz umgekommen ist.

Ab 1940 studierte Stern zunächst Romanistik, später Germanistik. 1942 meldete er sich freiwillig zum Kriegsdienst, wurde aber erst später eingezogen. Im „Military Intelligence Training Center“ in Camp Ritchie (Maryland), erhielt er eine Spezialausbildung und wurde so zu einem der sogenannten „Ritchie Boys“, einer überwiegend aus Emigranten gebildeten Spezialeinheit des Militärnachrichtendienstes. 1944 landete er drei Tage nach Invasionsbeginn in der Normandie. Er wurde im IPW (Interrogators of Prisoners of War) Team 37 eingesetzt, es bestand aus sechs Personen und verhörte bis Kriegsende deutsche Kriegsgefangene und Überläufer. Er erhielt für seinen Einsatz die Bronze Star Medal.

Nach dem Krieg nahm er sein Studium wieder auf, studierte an verschiedenen amerikanischen Universitäten und machte 1948 seinen B. A. in Romanistik, 1950 den M. A. in Germanistik, 1953 folgte die Promotion als Germanist. Nach Lehrtätigkeiten an der Columbia University New York City wurde er 1963 Professor und Abteilungschef für deutsche Sprache und Literatur an der University of Cincinnati, danach University Dean, ab 1975 an der University of Maryland. 1978 folgte die Berufung an die Wayne State University in Detroit, wo er ab 1981 Distinguished Professor für Deutsche Literatur- und Kulturgeschichte war. Gastprofessuren führten ihn an die Universitäten Freiburg im Breisgau, Frankfurt am Main (1993), Leipzig (1997), Potsdam (1998) und München als Mercador Professor. Guy Stern gilt als bedeutender und maßgeblicher Vertreter der deutschen Exilliteraturforschung in den USA.

Er ist der Direktor eines Instituts des Holocaust-Museums in Detroit sowie einer der Mitbegründer der Lessing Society, deren Präsident er von 1975 bis 1977 war. Als Autor und Herausgeber veröffentlichte er zahlreiche Bücher und Sammelwerke zur deutschen Literaturgeschichte, insbesondere zur Emigranten- und Immigrantenliteratur. 1988, bei der Enthüllung des Erinnerungsdenkmals am ehemaligen Standort der zerstörten Hildesheimer Synagoge am Lappenberg, trug er eine Ansprache bei. 1998 hielt er zum sechzigsten Jahrestag der Reichspogromnacht im Bonner Bundestag einen Vortrag.

Stern erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland (1987) und die Goethe-Medaille (1989). Bei der Vorstellung einer Festschrift für Stern 2005 hob die damalige bayerische Kultusministerin Monika Hohlmeier in ihrer Laudatio den erzieherischen Charakter seines Lebenswerks und Lebenswegs hervor, in dem Stern sich in besonderer Weise für die Stärkung der geistigen Grundlagen der Freiheit in Deutschland eingesetzt habe: „Sie selbst“, so Hohlmeier, „stellen für Lernende eine Identifikationsfigur dar: Ihr Lebensweg gibt anderen Orientierung, Ihre gelebte Vita zeichnet eine Spur, die anderen ein Weg sein kann.“

Stern ist mit der deutschen Schriftstellerin Susanna Piontek verheiratet.

In zahlreichen Beiträgen äußerte er sich interessiert und informierend über seine Kindheit und beginnende Jugend in Hildesheim. Stern gehört – wie auch der bedeutende Nobelpreisträger Hans Adolf Krebs – zu jenen Emigranten, die sich liebevoll ihrer Heimatstadt erinnerten, sie immer wieder gern besuchten und als herausragende Persönlichkeiten ein Aushängeschild für die Stadt sind. Guy Stern ist ein Mann von hoher internationaler Reputation, ein bedeutendes „Hildesheimer Kind“, das trotz des traumatischen Verlustes seiner Eltern und Geschwister die Verbindung zu seiner Heimatstadt gewahrt hat. Am 5. März 2012 wurde ihm die Ehrenbürgerschaft seiner Geburtsstadt Hildesheim verliehen und 2017 wurde Stern mit dem erstmals verliehenen OVID-Preis des P.E.N.-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland ausgezeichnet.

Eine weitere Auszeichnung erhielt Professor Stern 2017 in Frankreich. Hier wurde ihm der Orden eines Chevaliers der französischen Ehrenlegion überreicht.



Im Mittelpunkt der fast zweistündigen, aber sehr kurzweiligen Vorlesung mit Diskussion an der Friedrich-List-Schule Hildesheim standen die Aussagen des Ehrenbürgers der Stadt Hildesheim: Professor Dr. Guy Stern schlug einen gedanklichen Bogen der Vergangenheit in die Gegenwart, mit Ausblicken in die Zukunft. „Wichtige Grundlage für ein friedliches, geordnetes Miteinander ist, dass Menschen unbefangen und mit großem Respekt für den anderen miteinander umgehen. Wir müssen einander begegnen, voller Respekt, auch über verschiedene Anschauungen hinweg!“.

„Demokratie“, so der US-amerikanische Professor, „muss bewahrt werden, sie ist keine Selbstverständlichkeit. Wenn die Wahlbeteiligung immer weiter sinkt, dann ist das ein Ausdruck der Schwäche einer Demokratie.“

Im Nationalsozialismus, den er als Kind und Jugendlicher in Hildesheim erlebt hat, gab es eine Umkehrung der geschichtlichen Wahrheit. Wichtig sei es, seinen eigenen Kopf, sein eigenes Gehirn zu nutzen, um Verführungen und Verfälschungen zu erkennen und dem sofort etwas entgegenzusetzen. „Wie leicht es ist, einen ganzen Volkskörper in die Irre zu führen, erleben wir leider auch in der heutigen Zeit“.

„Die Technologie“, so Professor Stern, „muss unser Diener sein, aber wir müssen der Meister sein!“. Bei falschen Handy- und Computer-Nutzungen sieht er durchaus einen Verfall der Ideale.

Fasziniert waren die Zuhörerinnen und Zuhörer nicht nur über die Inhalte der Vorlesung, sondern auch über die Art und Weise, wie der immerhin 95-Jährige referierte und es verstand, die Anwesenden zu begeistern.

Sein humorvoller Vortrag war für alle ein schöner Abschluss des Schuljahres 2016/2017 und wird sicherlich unvergesslich bleiben.

Schulleiter Dietmar Ehbrecht bedankte sich ganz herzlich bei Professor Dr. Guy Stern mit Theaterkarten und einer Biographie über den Schulnamensgeber Friedrich List und stellte schließlich fest: „Aus den älteren Generationen ist sehr viel Weisheit zu schöpfen! Sie, lieber Professor Dr. Stern, sind der beste Beweis!“.



Hier eine kleine Auswahl von Professor Dr. Guy Stern:



Werke

• War, Weimar and literature. The story of the Neue Merkur, 1914–1925 (= The Penn State Series in German literature). Pennsylvania State University Press, University Park 1971, DNB 578599805.

• Literatur im Exil. Gesammelte Aufsätze 1959–1989. Ismaning 1989.

• Literarische Kultur im Exil. Gesammelte Beiträge zur Exilforschung (1989–1997) / Literature and Culture in Exile (= Philologica, Reihe A, Band 1). Dresden University Press, Dresden 1998, ISBN 3-931828-05-0 (teilweise deutsch und teilweise englisch).

• Fielding, Wieland, Goethe and the rise of the novel (= Analysen und Dokumente, Band 49). Peter Lang, Frankfurt am Main u. a. 2003 (Dissertation Columbia University New York (englisch)).

• Arno Reinfrank: Dichter aus der Pfalz im Exil – Autor der „Poesie der Fakten“ (1934–2001) (= Jüdische Miniaturen, Band 84). Herausgegeben von Jeanette Koch unter Mitarbeit von Maik Hamburger. Stiftung Neue Synagoge Berlin, Centrum Judaicum. Verlag Hentrich & Hentrich, Berlin 2009, ISBN 978-3-941450-02-8.

Literatur

• Konrad Feilchenfeld, Barbara Mahlmann-Bauer (Hrsg.): Autobiographische Zeugnisse der Verfolgung. Hommage für Guy Stern. Synchron, Wissenschaftlicher Verlag der Autoren, Heidelberg 2005, ISBN 3-935025-50-5.